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Herrn Larbigs Bibliothek 17 – Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

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Es gibt Bücher, da leuchtet unvermittelt ein, warum sie gerne gelesen werden. Jonas Jonassons „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ ist genau so ein Buch, auch wenn das deutsche Feuilleton sich selbst an die Nase griff und sich eingestehen musste, diesen Roman übersehen zu haben.

Es gibt Bücher, da leuchtet unvermittelt ein, warum sie zu Bestsellern werden, auch wenn niemand absehen konnte, dass diesen Büchern dieses Schicksal bevorstehen würde.  Jonas Jonassons „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ ist genau so ein Buch, das zu kritisieren angesichts des Erfolgs schwer ist. – Ich konnte mich dem Sog dieses Buchs ja (zunächst) auch nicht entziehen.

Allan Karlsson ist ein hundertjähriger Schelm, der in eine Mischung aus Kriminalgeschichte und Road-Movie hineingezogen wird, nachdem er sich entschieden hat, an seinem hundertsten Geburtstag aus dem Altersheim zu fliehen, indem er aus dem Fenster (natürlich eines ebenerdigen Zimmers) klettert.

1905 geboren ist Karlsson nicht nur Zeitzeuge, sondern auch einer, der zwar in die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts zutiefst absurd verstrickt ist, sich aber dennoch aus allem rauszuhalten versteht. Er begegnet den Mächtigen des Jahrhunderts, ist nicht ganz unschuldig daran, dass die erste Atombombe abgeworfen werden konnte, geht auf lange Wanderschaft durch China.

Das ganze Jahrhundert ist in die Geschichte der (Lebens)Reise des Hundertjährigen eingebunden. Mehr als einmal kann der Eindruck entstehen, der Erzähler des Romans übernehme kritiklos die Darstellungen des alten Karlssons, so verrückt sind diese Erlebnisse, die er im Laufe der Zeit gehabt zu haben behauptet.

Der Roman ist lustig, wenn man es lustig findet, dass jemand einen Elefanten und dessen Ausscheidungen dazu nutzt, wenn auch in einem Akt der Notwehr, ein Mitglied der schwedischen Mafia mit tödlicher Konsequenz zu eliminieren.

Doch selbst solche Szenen passen ins Bild, denn Jonasson nimmt gerade diese anscheinend „lustigen“ Ereignisse, um einen Roman der Relativierung von Geschichte zu schreiben. Mit der „richtigen“ Einstellung zu den Ereignissen kann man durchkommen, hundert Jahre werden und dabei topfit sein. Man kann vielleicht dazu beitragen, dass eines der letzten Probleme der Entwicklung der Atombombe gelöst wird und sich dabei völlig naiv und distanziert zeigen. Und ja, Karlsson wirkt in solchen Situationen wirklich nicht einmal bösartig.

Aber dennoch ist mir das Lachen spätestens an dieser Stelle im Halse stecken geblieben. Denn wenn unbefangene, schelmische Naivität Anteil an den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts gehabt haben soll, eine Naivität, die das Wort „Verantwortung“ nicht kennt, dann ist die lustigste Geschichte sehr bald sehr zynisch.

Stellt der Roman eine solche Naivität dar, die das 20. Jahrhundert zu einem der kriegerischsten in der Geschichte der Menschheit gemacht hatte?

Unterstellt der Roman, dass die Ereignisse wesentlich von den naiven Mitläufern geprägt wurden, die immer dann, wenn sie auf Verantwortung angesprochen wurden, sehr glaubwürdig zu Protokoll geben konnten, dass sie die Tragweite ihres kleinen (naiven) Beitrages gar nicht hatten übersehen können?

Oder ist es die Spaßgesellschaft, die in Allan Karlsson einen greisen Anhänger gefunden hat, der schon seit hundert Jahren von einem „Spaß“ zum nächsten torkelt?

Ja, es wird viel getorkelt in dem Roman. Das wird zwar nicht erzählt, aber die Menge an Alkohol, die dort verzehrt wird, trübt den Blick der Beteiligten tatsächlich, wenn sie auch noch so trinkfest zu sein scheinen.

Es ist ein Roman, der ständig innere Bilder herauf beschwört, in denen Jemand jemand anderem sagt, er solle aufpassen, was sein Handeln für Folgen haben könne und der andere dem Jemand sagt, er solle kein Spielverderber sein, keine Spaßbremse, es passiere natürlich nichts (relevantes) und außerdem solle sich Jemand gefälligst mal locker machen…

Der Roman wird irgendwann übrigens lang. Irgendwann hat selbst der naivste Leser die Grundidee verstanden, die Jonasson durch dekliniert. Sie ist im Titel schon genannt. „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ bezeichnet als Titel genau diese Grundidee. Und im Prinzip passiert vom Grundmodell her ständig das gleiche: Allan Karlsson trifft mit seiner Naivität, mit deren Hilfe er sich wunderbar aus allem herauszuhalten versteht, auch wenn seine Gegenwart das Geschehen massiv bestimmt, auf komplizierte Situationen, in denen andere vielleicht eingeschüchtert wären, Angst hätten oder sonst wie persönlich angerührt reagieren würden. Karlsson berührt das alles nicht.

Diese Grundidee gibt der Handlung zwar einige Wendungen, lässt sogar etwas Weisheit durch das Erzählte hindurch schimmern, aber sie trägt eben nicht durch 416 Seiten, in deren Rahmen die Figuren sich kaum entwickeln.

Es geht auf der Straße voran; es geht zurück in die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Figuren aber bewegen sich weder spiralförmig (wie auf einer Wendeltreppe) weiter oder zurück, sie drehen sich weitgehend im Kreis.

Aber dennoch und trotz allem: Vom Roman geht ein gewisser Sog aus, der zum Lesen hin zieht. Es bedarf schon einiger Energie, den Roman zur Seite zu legen und zu sagen, dass es lohnendere, wichtigere Bücher gibt. Warum dieser Roman aber von vielen gemocht wird und sich wider Erwarten zum Beststeller entwickelt hat, das leuchtet leicht ein. – Leider bleibt es bei dieser Leichtigkeit, die heiter verweht und keine Spuren zurücklässt, solange man nicht zufällig zum Opfer von Typen wie Allan Karlsson geworden ist.

 Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand, München 2011, 416 Seiten, 14,99 Euro. (Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn)   Der Roman ist auch als EPub- und Kindle-Buch verfügbar und kostet als E-Book  (in D) 11,99 Euro.

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